Projekte gegen das Vergessen: Erinnerung 80 Jahre Ende Zweiter Weltkrieg in der Oder-Warthe Region

Dirk Röder

Kaum ein Ereignis hat die Oder-Warthe Region so nachhaltig beeinflusst und fundamental verändert, wie das Ende des Zweiten Weltkriegs. Kriegsverbrechen, schwerste Kampfhandlungen, Zerstörung, Flucht, Vertreibung, Zwangsmigration, sowjetische Besatzungsmacht und neue Grenzen durch die Westverschiebung Polens – die Folgen für die Oder-Warthe Region sind bis heute, 80 Jahre nach Kriegsende, sehr präsent.

Es ist ein prioritäres Anliegen der Stadt Seelow, das historische Erbe der Region rund um das Ende des Zweiten Weltkriegs zu erschließen, zugänglich zu machen und grenzüberschreitend zu vermitteln. Deutsch-polnische Förderprojekte wie „Stätten der Erinnerung Oder-Warthe“ (2018-2023), „Erinnerung Verbindet“ (2025-2027) oder „Lebendige Erinnerungsorte“ (2026-2028) revitalisieren Erinnerungsorte, machen Geschichte grenzübergreifend erlebbar, schaffen neue Informationsgrundlagen und bilden internationale Netzwerke.

Antriebskraft ist dabei das schlagkräftige Team um den Seelower Wirtschaftsförderer Thomas Drewing: „Tourismusentwicklung ist ein wirksames Instrument der Wirtschaftsförderung. Investitionen in nachhaltige erinnerungs- und bildungstouristische Angebote machen zudem wichtige Geschichte erlebbar. Es besteht ein Bedarf und ein großes Potenzial, diese kulturellen Ressourcen für zukünftige Generationen zu erhalten und zur Entwicklung des gemeinsamen Grenzraumes zu nutzen.“

Mit polnischen und deutschen Partnern sammeln sie Ideen und entwickeln Projektskizzen, die neben der Aufarbeitung gemeinsamer Geschichte oft auch die Revitalisierung von Denkmälern, Gedenkstätten und historischen Gebäuden sowie Investitionen in touristische Infrastrukturen beinhalten.

Dabei folgen sie der Strategie der multiperspektivischen Erinnerungslandschaft Oder-Warthe, entwickelt im Auftrag der Stadt Seelow im Rahmen des Projekts „Stätten der Erinnerung Oder-Warthe“ (2018-2023). Die Idee: etwa 200 Erinnerungsorte erzählen die gemeinsame Geschichte der heutigen Grenzregion aus unterschiedlichen erinnerungskulturellen Perspektiven. Die neue touristische Dachmarke „Erinnerung verbindet“ vereint Themenrouten und Standorte in drei Epochen:

  • Gemeinsamer historischer Kulturraum: Lebendiges, grenzübergreifendes Kulturerbe von gemeinsamer Bedeutung aus der Zeit vor 1933,
  • Schicksalsraum: Zeit des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945, inklusive Nachkriegszeit und Neuordnung,
  • Begegnungs- und Entdeckungsraum: Wiederaufbau und Zusammenwachsen in friedlicher Nachbarschaft inklusive Kalter Krieg, Friedliche Revolution und Europäische Union.

www.erinerung-verbindet.eu

80 Jahre Zweiter Weltkrieg in der Oder-Warthe Region
Geschichtspfad Kriegsereignisse 1945

So entstand auch das Projekt „Gemeinsames Erinnern – 80 Jahre Ende Zweiter Weltkrieg 2025“, mit 31.746,62 EUR gefördert durch den Klein-Projekte-Fonds (KPF) der Euroregion PRO EUROPA VIADRINA im Rahmen des Förderprogramms Interreg 6A Brandenburg-Polen der Europäischen Union.

Gemeinsam mit der Gemeinde Słońsk entwickelte die Stadt Seelow als Lead Partner einen grenzübergreifenden Geschichtspfad, der an die Kriegsereignisse vor 80 Jahren erinnert und den Weg der Sowjetarmee durch unsere Region nach Berlin anhand wesentlicher Kriegsereignisse abbildet. Der Geschichtspfad verbindet 7 bedeutende Erinnerungsorte für die gemeinsame Geschichte und die Ereignisse von Januar bis Mai 1945.

Martyriums Museum Słońsk

Von 1933 bis 1934 befand sich in Słońsk, dem ehemaligen Sonnenburg, das erste deutsche Konzentrationslager und später ein Gefängnis. In der Nacht vom 30. auf den 31. Januar 1945 exekutierte ein Kommando von SS-Männern aus Frankfurt (Oder) 819 Häftlinge, darunter viele Franzosen, Belgier, Deutsche, Niederländer, Norweger und Luxemburger. Seit 1974 erinnern ein Mahnmal und das Museum des Martyriums an die tragischen Ereignisse. Jedes Jahr finden Gedenkfeiern mit internationaler Beteiligung in Słońsk statt.

Brückenkopf-Mahnmal und Panzerdenkmal Kienitz

Am 31. Januar 1945 erreichten in den frühen Morgenstunden leichtbewaffnete Vorausabteilungen der sowjetischen Streitkräfte die Oder bei Kienitz und bildeten an der Fährstelle sowie an der Hafenmühle einen Brückenkopf zum Westufer der Oder. Die anschließenden Kämpfe um das Dorf Kienitz tobten 76 Tage, ehe die Sowjetarmee den Ort endgültig einnehmen konnte. Kienitz wurde zu 80% zerstört. Auf dem Oder-Deich nahe Kienitz, am Weg zur ehemaligen Fähranlegestelle, symbolisiert eine metallene Stele den Übergang der Sowjetarmee zum Westufer. In der Mitte des Dorfes Kienitz befinden sich zwei weitere Denkmäler. Ein sowjetischer Panzer vom Typ T-34 erinnert an die gefallenen sowjetischen Soldaten, ein zweites Denkmal gedenkt allen Opfern des Krieges 1939-1945.

Kriegsschauplatz Schloss Klessin 1945, Podelzig

Das Dorf Klessin und das Rittergut wurden im Frühjahr 1945 vollständig zerstört. Viele Soldaten beider Seiten wurden in den siebenwöchigen Kämpfen getötet bzw. verwundet. Nach ca. 62.000 Granateinschlägen im Raum Klessin waren Dorf und Gut Klessin dem Erdboden gleichgemacht. Auf Initiative des Wuhdener Heimatverein e. V. und mit viel Eigenleistung über 15 Jahre ist eine naturnahe Gedenk- und Erinnerungsstätte entstanden. Eine Nachbildung des Schlossportals im zerstörten Zustand 1945, gefertigt aus Cortenstahl, ist das Wahrzeichen des Gedenkortes. Ein Rundweg mit Schautafeln, Akustiksäulen und Metallskulpturen sowie originale Granattrichter und Schützengräben erinnern an das Kriegsgeschehen.

Museum Festung Küstrin, Kostrzyn nad Odrą

Die preußische Festung Küstrin entstand Mitte des 16. Jahrhunderts und war mit sechs Bastionen eine der größten europäischen Stadtfestungen ihrer Zeit. Am 31. Januar 1945 erreichte die Sowjetarmee die strategisch wichtige Stadt mit Brücken über die Oder und Warthe. Nach 56-tägigem Kampf waren 95% der Alt- und Neustadt zerstört. Viele Menschen verloren ihr Leben. Die Altstadt und Festung wurden nie wieder aufgebaut. Heute ist das Museum der Festung Küstrin in Kostrzyn nad Odrą ein einzigartiges Flächendenkmal, auch bekannt als das „Pompeji an der Oder“. Es mahnt eindrucksvoll vor Krieg und seinen Folgen. Ausstellungen erzählen die Geschichte der Festung, Informationstafeln helfen beim Rundgang durch die ehemalige Küstriner Altstadt.

Gedenkstätte und Museum Seelower Höhen

Die Schlacht um die Seelower Höhen, eine der letzten und größten Schlachten des Zweiten Weltkriegs auf deutschem Boden, fand vom 16. bis 19. April 1945 statt und markierte den Auftakt des finalen sowjetischen Angriffs auf Berlin. Zehntausende Menschen fanden dabei an der Oderbruchkante den Tod. Noch heute werden vor Ort Kampfmittel und menschliche Überreste geborgen. Das Museum Seelower Höhen bietet Besuchern eine Dauerausstellung mit Exponaten, Karten und aufgezeichneten Zeitzeugengesprächen, die den dramatischen Verlauf der Kämpfe veranschaulichen. Das stets zugängliche Freigelände umfasst Panzer- und Geschützaufstellungen sowie eine sowjetische Kriegsgräberstätte samt repräsentativem Ehrenmal.

Museum Geschichtsstation Seelow (Mark)

Das neue Museum befindet sich im ehemaligen Bahnhofsgebäude Seelow (Mark), 300 Meter von der Gedenkstätte Seelower Höhen entfernt. Unter dem Motto „Die Region. Die Ereignisse. Die Menschen“ wirdmit authentischen Ausstellungsstücken und biografischen Details der Wandel der Region im Laufe eines Generationszeitraums dokumentiert und ermöglicht so einen anschaulichen Einblick in ihre bewegte Geschichte.

Museum Berlin-Karlshorst

Das Museum Berlin-Karlshorst befindet sich an dem Ort, wo 8. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg in Europa endete. Im heutigen Museumsgebäude unterzeichneten die Oberbefehlshaber der deutschen Wehrmacht vor Vertretern der Sowjetunion, der USA, Großbritanniens und Frankreichs die bedingungslose Kapitulation. Die historischen Räume sind original erhalten. Die Ausstellung „Deutschland und die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg“ zeigt den Krieg aus der Sicht beider, der deutschen und der sowjetischen, Akteure. Neben originalen Objekten, historischen Fotos und Schriftdokumenten werden Personen und ihre individuellen Geschichten vorgestellt.

Im Rahmen des Projekts „Gemeinsames Erinnern – 80 Jahre Ende Zweiter Weltkrieg 2025“ wurden mehrsprachige Print- und Audio-Informationen auf wetterfesten Acrylschildern an den jeweiligen Standorten angebracht, um Interessierten einen barrierefreien Zugang zu Hintergrundwissen und Geschichten in mehreren Sprachen zu ermöglichen. Informative Flyer mit Sammelbox erzählen zudem die Geschichte der beteiligten Erinnerungsorte.

An allen Standorten wurden 2025 in chronologischer Reihenfolge Gedenkveranstaltungen durchgeführt, um an die Opfer vor 80 Jahren zu erinnern und den neuen Geschichtspfad „Kriegsereignisse 1945“ bekannt zu machen. Dabei wurde jeweils auch ein „Vektor der Erinnerung“ (Vector of Memory) der Europäischen Kulturroute der Befreiung 1944-45 (Liberation Route Europe – LRE) feierlich eingeweiht.

Internationale Kooperation für Erinnerungstourismus

Die Liberation Route Europe (LRE) ist eine zertifizierte Kulturroute des Europarats, die Menschen, Orte und Ereignisse miteinander verbindet, um an die Befreiung Europas vom Hitlerfaschismus während des Zweiten Weltkriegs zu erinnern. Mit Hunderten von Stationen und Geschichten in mehr als zehn europäischen Ländern verbindet die Route die wichtigsten Regionen entlang des Vormarsches der Alliierten in den Jahren 1943-1945. www.liberationroute.com

In Zusammenarbeit mit Wanderverbänden in ganz Europa werden Wanderwege entwickelt, die den Vormarsch der alliierten Streitkräfte durch Europa nachbilden und sich über fast 10.000 km erstrecken. Entlang der Routen erzählen zahlreiche Erinnerungsorte aus unterschiedlichen Perspektiven die Geschichte der letzten Phase des Zweiten Weltkriegs. Der renommierte Architekt Daniel Libeskind hat eigens dafür ein Set symbolischer Wegmarkierungen entworfen, die „Vektoren der Erinnerung“ genannt werden und Menschen, Orte und Geschichten in der europäischen Landschaft ehren.

Nachdem die Liberation Route sich vornehmlich auf die Befreiung Westeuropas durch die alliierten Streitkräfte konzentrierte, rückt seit einiger Zeit der Weg der sowjetischen Streitkräfte und ihrer Verbündeten in Richtung Berlin in den Fokus der Kulturroute. Bedeutende Erinnerungsstätten in Polen wie die Vernichtungslager Treblinka und Auschwitz oder Gedenkstätten und Museen in Warschau und Gdansk sind bereits Bestandteil der Route.

Unterstützend wirkten dabei auch die Ergebnisse des Projekts „Stätten der Erinnerung Oder-Warthe“ (2018-2023) sowie die aktive Teilnahme der Stadt Seelow an Netzwerkveranstaltungen der Liberation Route Europe in Brüssel (2019), Aachen (2024) oder Krakow (2025). Zudem sind Thomas Drewing und Dirk Röder Gründungsmitglieder der Liberation Route Germany (2019 in Torgau), einem nationalen Ableger der Liberation Route Europe mit Sitz im Museum Berlin-Karlshorst.

Mit seinen individualisierten Vektoren wurde der Geschichtspfad „Kriegsereignisse 1945“ nun auch zum Bestandteil der Liberation Route Europe. Die mehrsprachigen historischen Inhalte und bildungstouristischen Angebote erreichen auf den Webseiten der Kulturroute ein breites internationales Publikum. Das ARYP-Projekt der Liberation Route Europe führte zudem junge Europäer auf den Spuren der Erinnerung im Oktober 2025 eine Woche entlang des deutsch-polnischen Geschichtspfads, um die eindringlichen Erfahrungen daraus in Videoblogs und Podcasts widerzuspiegeln.

Auch der Landkreis Märkisch-Oderland beginnt zunehmend, das besondere Potenzial der Erinnerungsorte der Oder-Warthe Region für außerschulischen Unterricht herauszustellen und greift dabei unter anderem auf die Ergebnisse der Seelower Projekte zurück.

Abschließend soll erwähnt sein, dass der Geschichtspfad „Kriegsereignisse 1945“ auf einer offenen Struktur basiert und weitere Erinnerungsorte jederzeit ergänzt werden können. Ansprechpartner hierfür ist die Wirtschaftsförderung der Stadt Seelow mit dem Netzwerk „Erinnerung verbindet“.

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

de_DE